Bewegungsentwicklung – bitte nicht vorgreifen

Immer wieder sieht man Eltern, die ihr Baby zum Laufen an der Hand halten noch bevor es frei laufen kann, Babys, die hin gesetzt werden zum Spielen obwohl sie selber noch gar nicht in diese Position kommen. “Vorgreifen in der Bewegungsentwicklung” nennt man das. Und es ist nicht ideal. Fabienne und Chantal von kinaekids erklären heute in ihrem Gastbeitrag, warum das so ist.

Hat mit dir heute auch schon jemand etwas getan, was du eigentlich noch nicht kannst, zum Beispiel in den Spagat gedrückt? Wie würde es dir dabei gehen? Löst es womöglich Angst, Starre, Unsicherheit, Freude, Motivation, Frust oder sogar Vertrauensverlust aus?

Die Empfindungen sind individuell, jedoch ist es eine klare Fremdbestimmung. Dieses Beispiel soll dir einen Einblick zeigen, was es heisst, wenn ein Kind in eine Position gedrängt wird, die es von sich aus noch nicht einnehmen kann. Dies wird auch Vorgreifen genannt.

Warum greift man denn in der Bewegungsentwicklung vor?

Meines Erachtens geschehen die meisten Vorgriffe aus Unwissenheit. Oft höre ich von Eltern, dass sie das schon von ihren Eltern so kennen. Auch sie seien beispielsweise von Kissen ummauert worden, so dass sie «alleine» sitzen konnten und es hätte ihnen ja auch nicht geschadet. Eltern möchten immer das Beste für ihr Kind und sind sich den möglichen Folgen nicht bewusst.

Viele «Volkskrankheiten» werden einfach hingenommen und die Ursache dafür wird selten in der frühen Kindheit gesucht. Auch die unzähligen Vergleiche unter den Eltern können dazu führen, dass man in der natürlichen Entwicklung des Kindes vorgreift. Das eine Kind läuft mit 12 Monaten frei, ein anderes macht noch nicht mal Anstalten dazu.

Eltern müssen Geduld haben und warten bis ihr Kind diese Meilensteine aus eigenem Antrieb bewältigen kann. Dass dies nicht so einfach ist, kann ich verstehen, denn es gibt unzählig viele Angebote, die einem vermitteln wollen, in der Entwicklung zu helfen. Sehr bekannt und beliebt ist hierbei der Gehfrei Wagen. Man denkt, dass das Kind so schneller das Gehen lernt, jedoch greift man damit nur unnötig in die natürliche Bewegungsentwicklung ein.

Mir ist es wichtig hier zu erwähnen, dass die Kinder auf jeden Fall die Unterstützung der Eltern brauchen, jedoch sollte diese dem Tempo des Kindes angepasst sein. Vertraue dir selbst!

Was passiert beim Kind, wenn in der motorischen Entwicklung vorgegriffen wird?

Bereits im Mutterleib bewegt sich das Kind nach seinem natürlichen Bewegungsdrang. Dieser Drang bleibt auch nach der Geburt erhalten. Genau dieser angeborene Drang, sich zu bewegen, reduziert sich, wenn von aussen bestimmt wird, was es wie tun soll.

Das Kind muss die Muskulatur anspannen, damit es in der der Position verharren kann. Dadurch können die Informationen nicht mehr richtig zum Gehirn transportiert werden, was wiederum Auswirkungen auf den Gleichgewichtssinn hat.

Das Kind kann so schneller hin fallen und sich dabei schlechter auffangen, es verfällt in eine Art Starre. Was auch zu vielen unnötigen Verletzungen führt. Dies alles hat auch Auswirkungen auf die Beziehungsebene. Denn Hand aufs Herz, tust du manchmal auch etwas einfach, weil du weisst, dass andere sich darüber freuen und nicht weil du dich dafür bereit fühlst.

Bewegungsentwicklung unterstützen ohne vorzugreifen

Mir ist bewusst, dass du dein Kind in der motorischen Entwicklung bestmöglich unterstützen möchtest. Hier ein paar Tipps, wie du Unterstützung leisten kannst, ohne vorzugreifen.

• Hebe kein Kind in eine Höhe in die es selbst nicht kommt.
• Gib Freiräume. Je mehr Einschränkungen es hat, desto grösser ist der Reiz darin, auszubrechen.
• Bewegungsimpulse geben an Becken und Brustkorb oder zeigen, wohin das Kind seine Arme und Füsse stellen kann. Achtung, hier sollte das Kind nicht gehoben werden.
• Nimm dein Kind auf deinen eigenen Körper und bewege dich gemeinsam mit dem Kind.
• Starre Positionen wie zum Beispiel in der Babyschale, im Hochstuhl oder im Kinderwagen sollten ganz nach dem Motto «Solange wie nötig, so kurz wie möglich» eingenommen werden. Am besten dem Kind vorher und nachher vielseitige Bewegungen ermöglichen.

Am wichtigsten ist es, das Kind als selbstständiges, exploratives, kompetentes und aktives Wesen zu betrachten. So kann das Kind in seinem Tempo seine Umwelt, sozialen Kontakte und seine Identität kennen lernen. Hierzu werde ich auch immer wieder gefragt, ob diese Bewegungsfreiheit für die Kinder nicht ein Risiko bietet. Hier kann ich aus Erfahrung sagen «nein». Sogar im Gegenteil eher Sicherheit.

Mehr Bewegungsfreiraum fördert das Selbstvertrauen

Kinder mit mehr Bewegungsfreiraum können sich differenzierter ausbalancieren und anpassen. Kennen ihre Fähigkeiten und können Grenzen besser einschätzen. Sie haben Selbstvertrauen und sind von sich aus motiviert, etwas zu schaffen. Das ist auch im weiteren Leben von zentraler Bedeutung. Das heisst die motorische Entwicklung hat nicht nur körperliche Folgen, sondern auch psychische, welche sehr relevant für die Persönlichkeitsentwicklung sind.

Welche Voraussetzungen braucht das Kind, damit es bereit ist für den nächsten Entwicklungsschritt?
Oft sind gerade im ersten Lebensjahr die motorischen Schritte sehr präsent. Doch nicht zu vergessen ist, was ein Kind in diesem Zeitraum sonst noch alles für Entwicklungen erzielt, da ja auch andere Bereiche sehr aktiv sind. Wir Erwachsenen haben ein Bild davon, wie man sich bewegt.

Aber die Bewegung, so wie ich sie mache, muss nicht auch für mein Kind stimmen. Insbesondere sollte hier beachtet werden, dass die Körperteile zueinander, sich anders verhalten als beim Erwachsenen. Sprich, damit ein Kind für den nächsten Entwicklungsschritt bereit ist, braucht es körperliche, wie geistige Voraussetzungen.

Die Knochen müssen genügend stabil sein, die Muskeln müssen sich an- und entspannen können, das Kind muss das Gleichgewicht halten und sich sicher auffangen können, wie auch das Hirn muss entsprechende Erfahrungen verarbeitet haben. Da man das nicht von aussen sieht, ist die wichtigste Voraussetzung, dem Kind Zeit zu lassen. Es spürt selbst, wann die Zeit für den nächsten Schritt gekommen ist.

Was sind die Folgen, wenn man in der Entwicklung vorgreift?

Dadurch, dass das Kind nur fremdbestimmt in die Position kommt, bekommt es das Gefühl, dass es jemanden anderes braucht, um sich bewegen zu können oder seine Ziele zu erreichen. Dadurch kann man das Kind abhängig von sich machen. Das Kind verlangt einem immer wieder aktiv und nicht nur um Bedürfnisse zu stillen, sondern um sich fortzubewegen.

Es wird weniger selbstständig und traut sich selbst weniger zu. Es kann auch zu Muskel- oder Gelenksblockaden kommen, was auch langfristige gesundheitliche Auswirkungen haben kann. Das Verarbeiten von den Eindrücken und Erfahrungen fällt ihnen schwerer, so dass sie viel weinen. Auch die Erwachsenen tragen Folgen davon.

Denn durch alle die Einrichtungen die es gibt, womit das Kind auf die Höhe des Erwachsenen kommt, hebt der Erwachsene das Kind oft, was Schmerzen verursachen kann. Aber auch der psychische Stress nimmt zu, da das Kind einem stark beansprucht.

Ab wann sollte man zum Arzt gehen?

Ich empfehle, sobald du ein ungutes Gefühl hast, dir Rat zu holen bei Fachpersonen. Gerade auch dann, wenn du dich bei deinen Bedenken nicht ernstgenommen fühlst. Dann solltest du dir unbedingt noch 2-3 weitere Meinungen einholen. Vertraue deinem Gefühl und hole dir Hilfe!

Lieben Dank an kinaekids für diesen wertvollen und spannenden Beitrag!

Meine Anmerkungen:  Ich kann jedes Wort unterschreiben. Ich wusste zum Glück schon beim ersten Kind, dass es nicht ideal ist, vorzugreifen und habe es auch nicht getan. Leider kenne ich genug Mütter, und das ist bis heute so, die es nicht besser wussten. Ich höre dann oft: “er/sie war einfach unzufrieden nur auf dem Bauch. So kann er/sie besser spielen“, wenn sie das Baby hin gesetzt haben.

Oder auch: mein Kind fordert ein, dass ich es an der Hand halte. Wie oben beschrieben ist es ganz klar: macht man es einmal, will das Kind es natürlich immer wieder so haben… Also besser gar nicht erst machen.

Man muss aber natürlich wie überall auch hier nicht päpstlicher sein als der Papst. Natürlich darf man sein Kind zum Wickeln auf die Wickelkommode legen, auch wenn es von sich aus nicht da rauf kann. Und wenn es sich im Sitzen besser anziehen lässt, stützt man es eben von hinten mit den Knien. Kurze Momente sind nicht so tragisch, wenn man sonst nicht vorgreift.

Leider sehe ich auch viele Babys, die in der Babyschale auf Wägen herum gefahren werden, was wirklich unnötig ist. Auch kann diese Lage die Sauerstoffsättigung beeinträchtigen (komprimierter Brustkorb), weshalb auch auf längeren Autofahrten mehrfach Pausen eingeplant werden sollten. Für Einkäufe und kurze Wege empfehle ich am liebsten das Tragen.

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