“Eine Gefühls- und keine Kopfsache”
Janine Köpfli*’s Sohn Ian trägt keine Windeln und dies seit er 7 Wochen alt ist. Einerseits gibt er seiner Mutter zu verstehen, wann er muss, manchmal spürt sie es aber auch intuitiv. Ein Interview.
Nestwärme: Janine, wie hast Du von windelfrei erfahren?
Janine Köpfli: Ich war vor einigen Jahren bei Freunden in Zürich zu Besuch. Kurz davor kam ihr zweites Baby auf die Welt. Ich staunte nicht schlecht, als meine Kollegin den Kleinen nach dem Stillen ihrem Mann übergab und dieser ihn zur Toilette trug. Sie sagten was wie «… er muss mal aufs Klo».
Ich muss sehr verdutzt ausgesehen haben, denn meine Kollegin lachte nur. Sie sagte, dass ihr Sohn keine Windeln trägt. «Was? Wie keine Windeln …», fragte ich. Sie erklärte mir in groben Zügen, was es mit windelfrei auf sich hat. Die Argumente überzeugten mich sofort. Das Konzept war etwas ganz anderes, neues und klang unglaublich spannend.
Für mich war klar, sollte ich einmal selbst Kinder haben, wollte ich es ausprobieren. Dass die ältere Tochter meiner Freunde – sie war damals etwa 1,5 Jahre alt – ganz alleine zum WC ging und ihr Geschäft erledigte, überzeugte mich nur noch mehr.
Wann hast Du damit begonnen?
Ian war 7 Wochen alt, als ich die Windeln beiseite liess. Im Buch «Es geht auch ohne Windeln» von Ingrid Bauer habe ich gelesen, dass die Eltern in vielen Kulturen damit beginnen, wenn ihre Babys zwei bis drei Monate alt sind. Es funktioniert aber auch ab Geburt oder später. Gleich nach der Geburt traute ich mich nicht. Ich hatte das Konzept aber stets im Hinterkopf und beobachtete meinen Sohn genau.
Ich erkannte schon bald ein Muster. Er machte nicht einfach so in seine Windeln. Stets war es mit Quengeln verbunden. Schon als Neugeborener machte er sein Geschäft am liebsten auf dem Wickeltisch, wenn ich die Windeln öffnete. Das bestätigte nur, was ich von windelfrei wusste. Schon als ganz Kleiner wusste er, wo das «Örtchen» war. Darum trug ich ihn, wann immer möglich, zum Wickeltisch, wenn ich das Gefühl hatte, dass er muss. Meistens machte er, sobald ich die Windeln geöffnet hatte.
Wie hat Dir Dein Sohn zu Verstehen gegeben, dass er “muss“?
Zu Beginn war es ein Quengeln. Ich spürte, dass er sich unwohl fühlte. Mittlerweile ist Ian fünf Monate alt. Er quengelt immer noch, untermalt aber seinen Druck mit einer Art «Muhmuh»-Laut. Je nach dem wie dringend das Geschäft ist, kann es sich zu Schreien (eine Art Protestschrei) steigern. Hier habe ich dann das Problem, dass er in der gleichen Tonlage protestiert, wenn er Hunger hat. Das führt manchmal zu Missverständnissen.
Kommt dieser Laut immer?
Nicht immer. Es kommt vor, dass er gar keinen Laut von sich gibt und verdächtig ruhig ist. Oder aber, er blabbert vergnügt vor sich hin, dann hilft nur Intuition.
Du spürst also, wenn Ian muss?
Ich hätte das vor einigen Monaten nicht für möglich gehalten, dass das funktioniert. Aber es ist tatsächlich so, wenn ich das Gefühl habe, dass er muss, muss er meistens auch. Wenn ich daran denke, aber kurz noch etwas fertig mache, ist es meist schon zu spät. Das mit dem Denken ist sowieso so eine Sache.
Ich habe gemerkt, dass, je weniger ich denke, desto besser funktioniert windelfrei. Es ist eine Gefühls- und keine Kopfsache. Ich ertappe mich dabei, dass ich das Gefühl habe, dass Ian mal muss, beginne dann aber zu überlegen, ob das denn schon wieder sein kann. Wie spät ist es? Kann er überhaupt schon wieder? Er kann!
Wie bist Du vorgegangen?
Im Buch wird beschrieben, dass man überall im Haus Töpfchen und Schalen stehen haben sollte, damit möglichst nichts daneben geht. Mir gefiel diese Vorstellung nicht. Es impliziert auch, dass das Baby signalisiert, dass es muss und dann sofort macht. So zumindest habe ich es mir am Anfang vorgestellt. Ich dachte dann aber: Entweder er hält durch, bis ich den Wickeltisch erreiche und er in eine Stoffwindel machen kann oder wir lassen das ganze.
Und tatsächlich, es funktionierte. Er machte sein Geschäft erst, als das Höschen ausgezogen war und ich den Startschuss mit einem «Psssss»-Laut gab. Ich versuchte Ian natürlich auch, über dem Waschbecken und der Toilette abzuhalten. Das behagte uns beiden nicht richtig. Ich hätte eine dritte Hand gebraucht. Es ging zu viel daneben. So blieb ich bei der Wickeltisch-Variante.
Dein Sohn ist nun schon seit vier Monaten tagsüber zuhause ohne Windeln. Hast sich in dieser Zeit etwas verändert?
Wir gehen in der Regel auch ohne Windeln spazieren. Mittlerweile funktioniert das Wasserlassen auch in der freien Natur sehr gut. Höschen aus, abhalten und gut! Ian kann nun bald sitzen. Wir werden uns nächstens ein Töpfchen anschaffen. Dann brauchen wir keine Stoffwindeln zum Abhalten mehr.
Unterwegs ziehst Du Deinem Sohn manchmal noch Windeln an. Akzeptiert er die Windeln gut?
In den ersten Wochen sträubte er sich regelrecht, Windeln anzuziehen. Nicht immer war ein Wickeltisch zur Stelle, wenn er musste. Das war am Anfang recht anstrengend, da er fast ununterbrochen quengelte. Mittlerweile ist es besser. Wenn immer ich ihn unterwegs wickeln kann, tue ich das, wenn ich merke, dass er muss. Windeln sollen wirklich nur ein Backup sein.
Und nachts?
Endlich ist der Sommer da! Ich habe einen neuen Versuch unternommen, Ian auch nachts keine Windeln anzuziehen. Ich kenne ungefähr seinen Rhythmus und tue mein Bestes, schnell genug aufzuwachen. Er schläft in der Regel zwischen sechs und acht Stunden am Stück. In dieser Zeit macht er nicht. Erst wenn er aufwacht, kommt das sogenannte «Aufwachbisi», das es zu erwischen gilt. Ich bin selbst erstaunt, wie gut es nachts funktioniert! Bisher ging noch nichts daneben und Ian schläft ohne Windeln sogar neun Stunden am Stück.
Wie ziehst Du Deinen Sohn an, wenn er keine Windeln trägt? (Normale Kleidung mit Bund und kleine Unterhöschen oder hast Du spezielle Windelfrei-Kleidung? (Back-Ups, Split-Pants o.ä.)
Ian trägt ganz normale Kleidung – bequeme Höschen und Oberteile (Longsleeve oder T-Shirt), damit er sich richtig gut bewegen kann. Der Babymarkt ist jedoch nicht auf Windelfrei ausgerichtet. Ich musste lange suchen, bis ich kleine Unterhemdchen und kleine Unterhöschen fand.
Überall gibt es nur Bodies zu kaufen. Diese sind aber ziemlich uncool, denn wenn etwas daneben geht, muss das Baby ganz ausgezogen werden. Mal davon abgesehen, dass die Knöpfe im Schritt unbequem sind.
Erwägst Du, die Windeln in Zukunft generell wegzulassen?
Auf jeden Fall! Es hapert im Moment vor allem noch an meiner inneren Einstellung. Zu sehr hat uns die Gesellschaft und die Windelindustrie geprägt, dass es mir noch immer schwerfällt, mich einfach auf mein Gefühl zu verlassen und mich voll und ganz auf die Bedürfnisse meines Sohnes einzulassen. Aber ich trainiere!
Wie kam Deine Entscheidung, Deinen Sohn ohne Windeln zu lassen, in Deinem Umfeld an?
Die Menschen, die davon erfahren, reagieren eigentlich sehr positiv. Sie sind neugierig, weil sie noch nie davon gehört haben. Die wenigsten können es sich aber vorstellen, die Windeln bei den eigenen Kindern wegzulassen. Meine Familie findet das Konzept super. Vor allem das Argument, dass ein Baby sich instinktiv nicht beschmutzen möchte, überzeugt. Ich denke aber, dass sie noch immer nervös werden, wenn sie Ian ohne Windeln auf ihrem Schoss halten. Ich muss dann innerlich grinsen.
Praktizieren auch der Vater des Kindes und die Grosseltern oder andere Betreuungspersonen windelfrei bzw. erkennen Sie ebenfalls, wenn Dein Sohn einmal “muss“?
Mein Freund hat mich von Anfang an unterstützt und mich sogar bekräftigt, Windeln wegzulassen, wenn ich Ian eigentlich welche anziehen wollte. Nach Möglichkeit machen alle Betreuungspersonen mit. Verständlicherweise fehlt ihnen die Übung. Wenn Ian quengelt, schauen sie mich meist fragend an. «Muss er jetzt?» Vor allem mein Freund lässt sich von kleinen Pannen aber nicht entmutigen und wird dadurch immer besser im Erkennen und Spüren.
Hast Du im Laufe der windelfreien Zeit an Sicherheit gewonnen?
Sehr. Vor allem bin ich lockerer geworden. Am Anfang war ich wie auf Nadeln. Es könnte ja etwas daneben gehen. Mittlerweile denke ich «So what!». Ich zieh ihm frische Höschen an und gut.
Gab es je einen “Streik” von Seiten Deines Sohnes? Falls ja, wie bist Du damit umgegangen?
Es gibt tatsächlich Tage, da geht gar nichts. Es geht schon, aber alles daneben. Keine Kommunikation, keine Intuition und Geschrei, wenn ich ihm das Geschäft versuche aufzudrängen, so nach dem Motto «Jetzt wäre es aber wieder einmal Zeit». Ian holt mich dann immer wieder auf die richtige Gefühlsebene zurück.
Nicht ich entscheide, wann er muss. Das macht er. Ich merke, dass ich ihm manchmal nicht vertraue. Dann klappt es auch nicht. Je weniger ich über mein und sein Tun nachdenke, desto pannenfreier funktioniert’s! Wenn’s mal nicht so gut klappt, versuche ich nicht darüber nachzudenken und mache einfach weiter. Und siehe da, die nächsten Erfolgserlebnisse kommen!
Konntest Du auch andere Mütter von “windelfrei” überzeugen? Wie sind die Reaktionen, wenn Du (z.B. in der Stillgruppe) davon erzählst?
Die Reaktionen sind meist positiv und mit grossem Erstaunen verbunden. Die Leute sind interessiert und wollen es genauer wissen. Überzeugen will ich niemanden. Ich mache es vor allem für Ian. Jeder muss es selbst wissen. Eine meiner Kolleginnen war aber so begeistert, dass sie es jetzt mit ihrer zwei Monate alten Tochter versuchen möchte.
Möchtest Du an “windelfrei” dran bleiben? Auch wenn Du in ein paar Monaten Deine Arbeit wieder aufnimmst?
Unbedingt! Ich rechne damit, dass es einfacher wird. Ian wird älter, er kann wahrscheinlich schon bald selbst zu seinem Töpfchen krabbeln. Er muss auch viel weniger, da er sein Bisi immer besser und länger halten kann. Es könnte sein, dass es am Anfang häufiger zu Pannen kommt, wenn ich nicht da bin. Aber er wird sich auch an die anderen Bezugspersonen gewöhnen und diese wiederum werden Ian bald genauso gut verstehen wie ich.
Wie findest Du das Konzept “windelfrei“? Wie denkst Du, dass Du und Dein Kind davon profitieren?
Mittlerweile bin ich ein Fan! Es macht mir einfach unglaublich viel Spass. Klar, es gibt Momente, in denen es einfacher wäre, eine Windel anzuziehen. Wenn der Kleine gerade morgens in einem Fort muss, wäre eine Windel natürlich der einfachere Weg. Wenn ich aber sehe, wie frei sich Ian ohne Windelpack bewegt, wie zufrieden er ist und wie gesund seine Haut unten rum aussieht, weiss ich, dass es ihm zuliebe richtig ist.
Ich profitiere, weil ich meinen Urinstinkt wieder entdecke und mich voll und ganz auf die Bedürfnisse meines Kindes einlassen kann. Davon profitiert Ian. So etwas wie Dreimonatskoliken kennen wir beispielsweise nicht. Er muss seinen Stuhl und sein Bisi nicht zurückhalten bis es weh tut. Und vor allem muss er nicht fast drei Jahre rund um die Uhr Windeln tragen.
Ich denke, das wirkt sich auf jeden Fall auf sein Körpergefühl aus. Ausserdem ist es eine Erleichterung, wenn er tatsächlich viel früher als «Windelkinder» trocken wird. Vor allem aber profitieren wir beide von der unglaublich starken Bindung zwischen uns.
Lässt es sich Deiner Meinung nach gut in den Alltag integrieren?
Sehr gut. Wir kennen nichts anderes. Wir legen den Weg zum Wickeltisch vielleicht öfters zurück als andere Eltern. Aber während andere Eltern vielleicht mühsam versuchen ihr Kind zu beruhigen, weil sie nicht wissen, warum es schreit, liegt Ian längst wieder erleichtert und zufrieden auf seiner Spielwiese und plappert mit seinen Spielzeugfreunden.
Eltern stellen sich das Ganze unglaublich anstrengend vor. Es ist aber nur halb so wild. Das Baby macht ja nicht ständig! Irgendwann erkennt man einen Rhythmus und weiss, wann sicher ein Bisi kommt, z.B. nach dem Aufwachen.
Würdest Du es weiter empfehlen?
Jedem, der gerne etwas Unkonventionelles ausprobieren möchte, der sich voll und ganz auf sein Kind einlassen möchte, der Traditionen loslassen kann, der Geduld und Zeit hat, der seinen Urinstinkt wieder entdecken möchte, der bereit ist, den Kopf auch einmal abzuschalten und ganz auf Gefühle zu vertrauen, der nicht an den Teppich denkt, wenn mal was daneben geht – jedem, der einfach Freude hat, eine intensive Zeit mit seinem Kind zu verbringen.
Würdest Du auch (D)ein (allfälliges) 2. Kind windelfrei aufwachsen lassen?
Ja, das steht ausser Frage. Ich würde sogar noch früher beginnen und auch versuchen die Abhaltetechnik zu verfeinern. Es mag anstrengend klingen, bei jedem Bisi laufen zu müssen. Ich sehe es aber nicht als Arbeit an, sondern als besondere Momente mit meinem Kind. Mal ganz davon abgesehen, macht es mir einfach Spass.
*Janine Köpfli ist am 20. Februar 2013 zum ersten mal Mama geworden. Sie arbeitet als Stv. Chefredakteurin und Ressortleiterin im Vaduzer Medienhaus. Derzeit geniesst sie noch ihren Mutterschaftsurlaub zuhause in Schaan mit ihrem Sohn Ian Maximilian. Gegen Ende des Jahres plant sie, wieder zu 80% in ihren Beruf einzusteigen während ihr Partner zu diesem Zeitpunkt nur noch zu 60% arbeiten wird, so dass sie sich die Betreuung von Ian zusammen mit der Grossmutter teilen können.
Fotos: Janine Köpfli
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